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Werden was man ist.

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Wie Schläge ins Gesicht empfinde ich manches, was mir an Meinung zugemutet wird. Aber warum ist das so?

Vor wenigen Tagen machte eine Notiz bei Facebook die Runde. Ein AfD-Anhänger hatte, offenbar unter Pseudonym, eine kurze Abhandlung darüber geschrieben warum seiner Meinung nach behinderten Menschen nur ein eingeschränktes Lebensrecht zustände. Das Original ist inzwischen gelöscht, aber Kopien kann man finden. Hier ist eine davon:

Als ich ein Kind war wohnte meine Familie auf der Sternstraße in Dresden. Unweit unserer Wohnung und genau in der Mitte meines Schulweges war eine Einrichtung für behinderte Kinder. Geistig behinderte offenbar, aber natürlich mit all den sichtbaren körperlichen Begleiterscheinungen. Recht oft begegnete ich diesen Kindern, wenn sie in Gruppen spazieren gingen oder in Wagen ausgefahren wurden. Eine Zeit lang fürchtete ich mich davor, dies könne ansteckend sein und wechselte die Straßenseite. Ich wusste niemanden in meiner Umgebung, mit dem ich darüber hätte reden können. Aber ich war mir sicher: Diese Kinder waren einem lebenslangen Leiden ausgesetzt und könnten unmöglich so leben wollen.

Irgendwann unterhielt ich mich mit meiner Lehrerin darüber. Eine starke, direkte, mutige Frau. Sie war auf ihre Art widerständig, in vielem für mich ein unerreichtes Vorbild. Sie meinte zu mir, das sei der Preis des Fortschrittes, früher seien solche schwer behinderten Menschen einfach gestorben, heute würden sie entgegen der Natur am Leben gehalten. Ich nahm es hin: man kann sie nicht umbringen, das war irgendwie klar, aber schön ist das alles nicht. Damit war diese Sache für mich eine ganze Weile erledigt.

Matthias

Nach der 10. Klasse wechselte ich in die EOS. An der für mich zuständigen Schule war kein Platz mehr frei, aber es fand sich einer im Nachbarkreis. Aus der proletarischen Welt Pieschens verschlug es mich in die bürgerliche, so ganz anders erscheinende Welt Radebeuls. Während es in meiner alten Schule kaum christliche Mitschülerinnen und Mitschüler gab fand ich mich plötzlich in einer Welt vor, in der wir Nichtchristen eine wundersam kleine Minderheit waren. Einer derer, die am klarsten in ihrem Glauben waren, war Matthias. Er schien so viel reifer als ich, und das Gedankenmessen mit ihm war mir eine Lust. Sein Bewusstsein über sich als gläubiger Mensch war mir Ansporn, ebenso bewusst nicht gläubig zu sein. Aber das ist eine andere Geschichte…

In unseren Unterhaltungen kamen wir irgendwann auch auf das Thema der behinderten Menschen. Und ich sprach also das, was ich bisher dazu erlebt und gehört hatte. Und er, er erzählte etwas anderes. Etwas ganz einfaches. Er sagte:

Ich helfe ab und zu in einem Behindertenheim. Dort füttere ich Nachmittags die, die nicht selbst essen können. Ich gebe ihnen einen Löffel voll Kuchen, und ich kann sehen wie es ihnen schmeckt. Und weisst du, wer sich so über einen guten Geschmack freuen kann, der kann Glück empfinden. Und wer Glück empfinden kann ist ein Mensch wie du und ich.

Wie oft irrt man sich, wenn man meint Richtig und Falsch genau erkennen zu können. Und sicher trifft nicht jeder in seinem Leben auf seinen Matthias, der mit einer kleinen Geschichte ein hartes Herz weich machen kann. Deswegen, so habe ich mir vorgenommen, will ich jedem Jungen und jedem Fragenden, Suchenden nachsehen, wenn seine Gewissheiten nicht meine sind.

Aber dem Pseudonym Friedrich Wilhelm von Leien-Klagenbrecht will ich es nicht nachsehen. Denn dahinter steckt nichts Junges, Suchendes, Fragendes. Dahinter steckt etwas, was mit der Furcht spielt, die ich als Kind empfand. Dahinter steckt das zu Politik gewordene Böse, das die Ängste und Vorbehalte derjenigen ausnutzt, die auf ihren Matthias noch nicht getroffen sind. Dahinter steckt etwas, was man Faschismus, AfD, Verbrechen nennen kann. Meinungen, gemacht, um uns ins Gesicht zu schlagen.

Blick zurück

Sie halten das für übertrieben? „Weil sie den Mitmenschen und dem Staat zu sehr zur Last fallen und dadurch andere in ihrer gesunden Entwicklung behindern“. So schreibt der hinter dem Pseudonym versteckte Autor. Das hatten wir schon. Hier:

https://www.baden18-45.de/filter/1940-01-vernichtung-lebensunwerten-lebens-der-beginn-der-euthanasie-aktion-t4/

2 Kommentare

  1. Ich habe mir selbstverständlich das Profil des Autoren auf Facebook angeschaut. Zwar nutzte er ein Pseudonym, der Rest war aber sehr eindeutig das Profil eines sehr überzeugten AfD-Parteigängers.

  2. Wenn ich jetzt einen ähnlich widerwärtigen Text zu einem anderen politischen Thema unter einem Pseudonym bei Facebook posten würde. Und wenn ich dabei das Logo der Linken verwenden würde. Würden sie dann auch völlig ungeprüft von einem Linken-Anhänger als Verfasser ausgehen und auf die Linken schimpfen, so wie sie es hier mit der AfD gemacht haben? Nein, sie würden den Fake natürlich riechen. Mit der Forderung nach Euthanasie von behinderten Kindern bringt man locker 99,9% der Bevölkerung gegen sich auf. Zu Recht! So eine Forderung wäre extrem schädlich für die AfD und strafbar wäre sie obendrein.Und genau darum geht es dem Mann der diesen Fake erstellt hat: Er möchte die AfD schädigen. Und sie machen mit oder möchten sie den Beitrag noch Mal überdenken?

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