Im Hintergrund findet derzeit eine interessante Diskussion statt, ob meine Fraktion im Dresdner Stadtrat eine Doppelspitze benötige oder nicht. Erstes öffentliches Anzeichen dafür war ein Antrag im Stadtvorstand der Partei. Zweites Anzeichen ist die Entscheidung auf unserer konstituierenden Fraktionssitzung am Dienstag, den Vorstand der zu Ende gehenden Fraktion der Wahlperiode 2014 bis 2019 vorerst im Amt zu belassen.
Inzwischen habe ich auch mit manchen Beteiligten gesprochen. Über die Argumentation des Antrages im Stadtvorstand (DIE LINKE setzt sich grundsätzlich für paritätisch besetzte Führungsfunktionen ein) habe ich mich in einem anderen Artikel geäußert. Nunmehr wird, fast wortgleich von unterschiedlichen Personen vorgebracht, ein anderes Argument eingeführt.
Es lautet sinngemäß: Unsere Partei/Fraktion muss sich in der Führungsspitze breiter aufstellen, müsse in andere Wählendengruppen ausstrahlen, die Ergebnisse der Wahlen vom 26. Mai 2019 sprächen für Veränderung.
Die Arbeit des bisherigen Fraktionsvorsitzenden
Bemerkenswert für mich ist, dass niemand in der bisherigen Fraktion erkennbare Kritik an Andres Stil, an Andres Politik oder an Andres Wirkung vorgebracht hat. Weder während der Fraktionssitzungen noch während der Sitzungen des Fraktionsvorstandes (Mitglieder waren neben Andre noch Margot Gaitzsch, Kerstin Wagner, Anja Apel und ich) gab es so etwas, auch nicht auf Klausuren. In den Gesprächen die man am Rande des Rates führt gab es zwar durchaus ab und zu „Formnoten“ für einzelne Reden, aber so etwas ist weit von ernsthafter Kritik entfernt. Wesentlich kritischer wurde Andre oft von den Kooperationspartnern gesehen. Aber deren Anmerkungen, die seine Schärfe in den Verhandlungen im Ringen um gemeinsame Positionen der Kooperation betrafen habe ich eher als Qualitätssiegel gesehen.
Ich selbst bin mehrere Male in inhaltlichen Fragen hart mit Andre aneinandergeraten, unter anderem in der Frage der Direktwahl der Stadtbezirksbeiräte. Während er die Direktwahl (aus respektablen Gründen!) ablehnte hielt ich sie für zwingend notwendig. Und ich bewundere ihn für seine Fähigkeit, in einem solchen Konflikt, dieser betraf ja nicht nur uns sondern die gesamte Partei, einen Kompromiss zu erarbeiten der uns mit einer starken politischen Position auftreten lies.
Was Andre ebenfalls auszeichnet sind zwei weitere Eigenschaften: Er kann als politischer Generalist den Fachpolitiker*innen weitgehend freie Hand lassen ohne selbst den Überblick zu verlieren und er erkennt Chancen zur Umsetzung linker Politik lange vorher und kann somit die notwendigen Strategien vorbereiten und umsetzen.
Das Argument der Wirkung auf Wählendengruppen
Dieses Argument wäre unter mindestens folgenden Rahmenbedingungen richtig:
- DIE LINKE. wird in Dresden ausschließlich über die Stadtratsfraktion wahrgenommen
- Kein anderes Fraktionsmitglied ausser der Fraktionsspitze hat eine öffentliche Wirksamkeit
Würden diese beiden Voraussetzungen zutreffen käme der Besetzung der Fraktionsspitze nach den Kriterien ihrer Aussenwirkung absoluter Vorrang zu. Allein: Sie treffen nicht zu. Unsere Partei wirkt über unterschiedliche Personen, die für unterschiedliche Politikfelder stehen, die habituell unterschiedlich sind. Dresden ist der Herkunftsort der Parteivorsitzenden, er ist Sitz einer unserer Europaabgeordneten, in unserer Stadt wirkt die parlamentarische Geschäftsführerin der Landtagsfraktion mit einem ausgeprägten politischen Profil, zwei Beigeordnete in den für die Stadt bedeutenden Themen Kultur und Soziales sind mit Wirkung auf Wählendengruppen tätig.
Auch die Aussenwirkung der Stadtratsfraktion ist keinesfalls auf den Fraktionsvorsitzenden beschränkt gewesen und sollte in Zukunft auch nicht darauf beschränkt sein. Es ist guter und von Andre im übrigen stets unterstützter Brauch gewesen, dass die in einem Fachgebiet tätigen Kolleg*innen auch die Öffentlichkeitsarbeit dazu verantworten. So wird die Bildungspolitik der Dresdner Linken selbstverständlich mit Anja Apel verbunden, in Fragen Stadtentwicklung und Verkehr ist ohne Zweifel Tilo Wirtz öffentlich bekannt. Und ich kann mich gut erinnern, dass bei großen öffentlichen Fraktionsveranstaltungen wie der zum Weltfriedenstag 2018 Pia Barkow auf der Bühne moderierte.
Nach den Wahlen muss es Veränderungen geben?
Nun, angesichts der prozentualen Verluste liegt dieser Gedanke erst einmal nahe. Allerdings erscheint es mir ein besonders dünnes Brett zu sein, dass mit personellen Veränderungen an der Spitze der Stadtratsfraktion gebort werden soll. Gäbe es spezifische, deutlich stärker als in vergleichbaren Städten ausgefallene Verluste der Dresdner Linken (man schaue einmal auf das absolute Wahlergebnis nach dem Wobaverkauf) so müssten die dafür Zuständigen sicher Konsequenzen ziehen. Das beträfe dann den Stadtvorstand und die bisherigen Mitglieder der Ratsfraktion. Aber eine solche Dresdner Spezifik gibt es nicht. Deshalb ist dieses Argument schlicht falsch und der herbeigeredete Handlungsdruck unsinnig.
Was sollte bei einer Vorsitzendenwahl wichtig sein
Neben der sicherlich auch beachtenswerten, aber nicht vorrangigen Frage der Aussenwirkung stehen für mich andere Fragen im Vordergrund: Haben die in Frage kommenden Personen die Fähigkeit, in der komplizierten Gemengelage eines extrem knapp links ausgerichteten Stadtrates Kurs zu halten? Bringen sie die dafür notwendigen zeitlichen Ressourcen auf? Können sie auch in einer kritischen Lage die eigene Fraktion zusammenhalten und eine positive Meinungsbildung herbeiführen? Behalten sie im taktischen kleinklein der Stadtratssitzungen die Übersicht? Haben sie die Fähigkeit, die unterschiedlichen Wünsche aller Fraktionsmitglieder wahrzunehmen und ihnen weitgehend zu entsprechen?
Wir sind eine übersichtliche Fraktion. Wer meint, es besser zu können als Andre sollte sich melden. Ich für meinen Teil kann vieles. Aber dies würde ich mir nicht zutrauen.