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Kälte

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Ich habe heute eine lange vor mich her geschobene Aufgabe erledigt und dabei war mir kalt. Das lag am Schatten, in dem ich saß, und am Buch das ich dabei gelesen habe.

Kurz nachdem ich Vorsitzender des Stadtverbandes von DIE LINKE.Dresden wurde, in meiner Erinnerung Anfang 2013, besuchte ich in Begleitung von Robert Wünsche, der Fotos machen sollte, Genossen Frido Seydewitz. Aus einer geplanten Besuchsstunde wurden fast drei, und er erzählte aus seinem Leben, antwortete auf meine Fragen. Unter anderem wollte ich wissen warum er in der DDR über seine Zeit im Gulag in Kolyma nichts erzählt hätte. Er wollte, so sagte er, keine zusätzlichen Gewichte auf die Waage der öffentlichen Meinung legen, die sich zuungunsten der Sowjetunion neigte. Und er erzählte dann eine ganze Weile über das Lager, warum er überlebte, dass viele Genossen aus der Sowjetunion ebenso litten und sie beim Abschied dort gemeinsam grübelten, was man anders machen müsse damit der Sozialismus gelingen kann.

Einige Tage später klingelte es unerwartet an meinem Haus, und unten stand der über 90 Jahre alte Mann. In seinen Händen eine Tüte mit Süßigkeiten für Hans und ein Buch. „Schwarzes Eis“ von Sergej Lochthofen über das Leben seines Vaters Lorenz Lochthofen und er meinte, wenn ich mehr über Schicksale im Gulag erfahren wolle, solle ich dieses Buch lesen. Seitdem lag es, eingeschweißt in die Folie aus der Druckerei, auf meinem Bücherregel.

Zwischenbemerkung

Ich war 18, 19 Jahre alt als die DDR zusammenbrach. Das Ende der Honeckerzeit und die Öffnung der Grenze zur BRD erlebte ich als Unteroffiziersschüler, dieser Wandel war mir wie ein irres, schnelles Abenteuer. Ich war zu jung, um in meiner verschwindende Welt mehr sehen zu können als das Stück Heimat, was Menschen in diesem Alter abhanden kommt. Alles und gleichzeitig nichts. Monate später erlebte ich, wie sich die verbliebenen Mitglieder der SED, die 10 % die nicht davongelaufen waren oder nicht davonlaufen mussten, in langen, schmerzhaften Diskussionen mit der Frage beschäftigten, wie mit der Schuld umzugehen sei die auf ihnen laste. Sowohl der persönlichen Schuld als auch mit der als Generation, die den Sozialismusversuch hatte scheitern lassen.

„Was für ein schöner Sonntag“, geschrieben von Jorge Semprun, beschreibt eindringlich wie ähnlich sich das nackte Böse des Faschismus am Alltag im KZ Buchenwald und das nackte Gute sind. Dieses Buch bekam ich übrigens von Julia Bonk, der ich bis heute dafür dankbar bin. Gegen Ende des Buches beschreibt Semprun, wie er noch immer zusammenschreckt wenn ein Scheinwerfer auf ihn gerichtet ist und fragt sich dann, er, der Buchenwald überlebte, weil immer klar war wer der Feind ist, wie es den Häftlingen in den Gulags gehen musste, die doch nicht vom Feind eingesperrt waren sondern von den eigenen Genossen.

Lochthofen

Arbeiterkind, Emigrant, Workuta als Häftling, Workuta als Verbannter, DDR von unten als Schlosser bis oben im ZK der SED. Die Grausamkeiten dieses Lebens erscheinen wie Wegmarken. Vielleicht ist es gut, dass ich vorher Theodor Kramers Gedichte gelesen habe, deren Beschreibung des Alltagslebens der Menschen am Rande Anfang des 20. Jahrhunderts verständlich werden lassen, woher Kraft und Unerschütterlichkeit der Idee einer besseren Welt kamen. Und an welcher Stelle dieses Weges, wenn man ihn selbst gegangen ist, hätte man wissen sollen, dass die Zumutungen des Weges in eine bessere Welt so groß sind, dass dieser Weg falsch wird?

Und nun?

Mir war kalt bei Lesen dieses Buches. Das lag nicht nur am Schattenplatz und dem gelegentlichen Wind, sondern an der eindringlich beschriebenen Kälte Workutas. Und an meiner Ratlosigkeit. Sicher, Lochthofen schreibt die Entartungen des „Stalintums“ den kulturellen Eigenarten des russischen Volkes zu, aber ich mag ihm das nicht glauben. Ronald Weckesser erklärte einmal die Härte der Kämpfe unter Linken so, dass man als Linker ja meine das Gute zu wollen, und wer etwas anderes wolle, wolle ja dann folgerichtig nicht das Gute, also das Böse. So aphoristisch dieser Gedanke daherkommt, so trifft er doch viele Auseinandersetzungen die ich unter Linken kenne.

Wäre es, nach der quälenden Befassung mit der eigenen Geschichte, die meine Partei im Osten geprägt hat, nicht unsere Aufgabe weiterzutragen, dass die Idee vom „Alle oder keiner“ auch, vielleicht gerade unter den Genoss*innen, zu gelten hat?

Oh, käm ’s aufmich nicht an! 

Wie sehr ich auch zerfahren,
wie ausgebrannt ich bin,
so fühl ich in den Haaren
den Wind noch und ums Kinn;
ich bin schon Früh zerschlagen,
nichts taugt mir, was ich kann,
oh, könnt ich doch noch sagen:
es kommt auf mich nicht an!

Lohnt wenig das Erinnern,
hab Viel ich auch gezecht,
so weiß ich doch im Innern,
was gut ist und was schlecht;
die Schlacht wird stets geschlagen,
gebraucht wird jeder Mann,
oh, könnt ich doch noch sagen:
es kommt auf mich nicht an.

Wann unser immer einer
sich fallen läßt und fällt,
so wird um ihn gleich kleiner
und ärmer auch die Welt.
Es gilt, noch Viel zu wagen,
wieviel mir auch verrann;
oh, könnt ich doch noch sagen:
es kommt auf mich nicht an.

Theodor Kramer, 5.6.1946

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