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Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.

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Anmerkungen, inspiriert von Benjamin Keckeis

Die Überschrift meines Artikels ist ein Tucholsky-Zitat. Es lief mir, wie sollte es anders sein, bei Facebook über den Weg. Von einem, der die Coronaleugner nicht Schwurbler nennt, weil er wohl ähnlich fühlt. Es stammt aus der Weltbühne aus dem Jahr 1931, aus einer Rezension des Romans „Bauern, Bonzen und Bomben“, die Tucholsky dort unter dem Pseudonym Ignatz Wrobel geschrieben hat. Es findet sich auf der verlinkten Seite im zweiten großen Absatz vor dem Schluß und ist, etwas länger wiedergegeben, sogar noch besser:

…die Denkungsart der breiten Masse hat die Republik nie erfaßt. Nicht nur, weil sie maßlos ungeschickt, ewig zögernd und energielos zu Werke gegangen ist; nicht nur, weil sie 1918 und nach dem Kapp-Putsch, nach den feigen Mordtaten gegen Erzberger und Rathenau alles, aber auch alles versäumt hat – nein, weil der wirkliche Gehalt dieses Volkes, seine anonyme Energie, seine Liebe und sein Herz nicht auf solcher Seite sein können. Die Sozialdemokratie ist geistig nie auf ihre Aufgabe vorbereitet gewesen; diese hochmütigen Marxisten-Spießer hatten es alles schriftlich, ihre Theorien hatten sich selbständig gemacht, und in der Praxis war es gar nichts. Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig. Daß nun dieses richtige Grundgefühl heute von den Schreihälsen der Nazis mißbraucht wird, ist eine andre Sache.

Es ist an vielen Stellen heute noch so. Das Volk hat ein Grundgefühl, und noch bevor der erste Nazi es mißbrauchen kann, findet sich ein linker Spießer, der dem Grundgefühl mißtraut. Es könnte ja von Nazis mißbraucht werden, nicht wahr. So muß linke Politik zum Scheitern verurteilt sein!

Ein Grundgefühl zu erfassen und ihm politisch Ausdruck zu verleihen ist das, was im Grundgesetz Willensbildung genannt wird. Die eigentliche Aufgabe der Parteien.

Ich gönne mir diese lange Vorrede, um nun zur von Benjamin Keckeis behandelten Frage zu schwenken. Könnte das uns allen gut bekannte Grundgefühl, dass es mit der Idenditätspolitik etwas zu weit geht und das selbstverständlich auch von Nazis mißbraucht wird (aber das ist, um es zu wiederholen, eine andere Sache), könnte also dieses Grundgefühl richtig sein? Und wenn ja: Woran liegt das?

Dazu hier meine Vermutung.

Über politische Themen unterhalten sich alle Menschen. Einfluß auf den Diskurs haben aber faktisch nur Angehörige der oberen Schichten, der Eliten. Darin begründet sich schon immer eine gewisse Distanz der einfachen Leute zu dem, was „die da oben“ so sagen und eine ebenso große, wenn nicht gar durch Neid und Mißgunst gefütterte noch größere Distanz derer „da oben“ gegen alle unter Ihresgleichen, die sich dem Volk verständlich machen können. Populisten werden sie genannt und sind Ausgestoßene, ganz egal ob ihre Reden das Volk aufklären oder verführen, ermächtigen oder mißbrauchen.

Nun ist aber jede Gruppe in der Lage, aus sich heraus eine solche Oberschicht, eine Elite zu bilden. Selbstverständlich gibt es reiche, kluge, zur Elite gehörende Frauen. Selbtsverständlich gibt es reiche, kluge, zur Elite gehörende Homosexuelle. Selbstverständlich gibt es reiche, kluge, zur Elite gehörende People of Colour. Es wird sicherlich so sein, dass es für die meisten dieser reichen und klugen Eliteangehörigen aus sonst unterdrückten Gruppen schwerer war, ihren Status zu erreichen, aber sie haben ihn erreicht.

Nun, da sie zu den oberen Schichten gehören, prägen sie den politischen Diskurs mit.

Nur einer Gruppe ist es nicht vergönnt, eine solche Oberschicht herauszubilden. Den Armen. Denn selbstverständlich gibt es zwar kluge Arme, aber keine reichen Armen, die zur Elite gehören. Deswegen sind sie am politischen Diskurs nicht beteiligt. Oder: Doch. Durch ihre politischen Parteien. Durch uns, die LINKE.

Idenditätspolitik ist faktisch im durch die Oberschichten geprägten politischen Diskusrs angekommen. Sie kaum zu hinterfragen und zu übernehmen heißt, so zu sein wie die da oben.

Arme im politischen Geschäft zu vertreten heißt, möglichst nicht so zu sein wie die da oben. Sondern so wie die da unten. Heißt eben auch mal Candy Crush zu spielen wenns langweilig wird oder einem Ar*loch Blumen vor die Füße zu schmeißen. Und heißt eigentlich, von den Oberschichten der sonst benachteiligten Gruppen Solidarität zu verlangen wenn es um die Belange der Armen geht. Warum lese ich in jedem zweiten Artikel, die Kassiererin bei Aldi würde doch bestimmt solidarisch sein wenn ihr schwuler oder schwarzer Kollege angegriffen wird, aber nie, Jens Spahn als Teil einer homosexuellen Oberschicht solle sich solidarisch verhalten mit den Armen und Unterdrückten dieser Welt? Eine solidarische Kassiererin gegen einen solidarischen Jens Spahn. So wird ein Handel draus, oder nicht?

Das Volk, also die da unten, fühlt das wohl so. Die von Nazis mißbrauchten werden sich gegen Minderheiten wenden oder Frauen wieder an den Herd holen wollen. Aber das sind nur einige. Die anderen sagen: He. Ich will etwas von der Solidarität zurück, die ich geben soll. Und He, Linke: Wenn du dich ganz für uns einsetzt und mit den benachteiligten Gruppen ein Bündnis eingehst: Das ist gut. Wenn du dich nur noch halb für uns einsetzt und halb für die anderen dann werden wir schwächer. Also: Sie sagen das nicht. Aber sie fühlen das. Und sie werden jemandem, der nur halb für sie da ist nichts verzeihen.

Nachsatz: Das „die anderen“ im vorigen Absatz klingt wie eine Abgrenzung. Kann sein. Ist aber eine Folge der Idenditätspolitik. Dadurch wird das andere der Anderen erst zu einer alltäglichen politischen Kategorie.

Ein Kommentar

  1. Dass es der Kapitalismus in einigen Fällen der Identitätspolitik sehr gut verstanden hat, den Kampf benachteiligter und diskriminierter Gruppen und Minderheiten zu absorbieren und von Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und Klassenunterschiede zu lösen, macht das Anliegen dieser Gruppen nicht weniger legitim. Die Schwierigkeit, und das beschreibst du ganz richtig, ist, nicht genauso zu klingen wie die linksliberale Oberschicht, die diese Anliegen ebenso vertreten, zumindest solange es nicht um tatsächliche Umverteilung von Macht und Geld geht sondern nur darum, dass es einigen wenigen aus den diskriminierten Gruppen ermöglicht wird, in die Oberschicht vorzustoßen.

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